Vorsteuerabzug bei Konkurrenz unterschiedlicher Umsatzsteuerbefreiungen
Vom Vorsteuerabzug ausgeschlossen ist nach § 15 Abs. 2 UStG insbesondere die Umsatzsteuer für den Bezug von Lieferungen, die Einfuhr und den innergemeinschaftlichen Erwerb von Gegenständen sowie für den Bezug von sonstigen Leistungen, die ein Unternehmer zur Ausführung steuerfreier Umsätze verwendet. In einer Reihe gesetzlich definierter Fälle ist der Vorsteuerabzug jedoch auch bei der Ausführung bestimmter steuerfreier Umsätze nicht ausgeschlossen (§ 15 Abs. 3 UStG). Verwendet ein Unternehmer einen für sein Unternehmen gelieferten, eingeführten oder innergemeinschaftlich erworbenen Gegenstand oder eine von ihm in Anspruch genommene sonstige Leistung nur zum Teil zur Ausführung von Umsätzen, die den Vorsteuerabzug ausschließen, so ist der Teil der jeweiligen Vorsteuerbeträge nicht abziehbar, der den zum Ausschluss vom Vorsteuerabzug führenden Umsätzen wirtschaftlich zuzuordnen ist (§ 15 Abs. 4 UStG).
Sind bei einem umsatzsteuerbaren Leistungsaustausch tatbestandlich gleichzeitig sowohl Steuerbefreiungsvorschriften erfüllt, die den Vorsteuerabzug ausschließen als auch solche, die diesen zulassen, stellt sich die gesetzlich nicht ausdrücklich geregelte Frage, wie sich dieses Konkurrenzverhältnis auf den Vorsteuerabzug auswirkt.
Die Finanzverwaltung vertritt im Umsatzsteuer-Anwendungserlass (UStAE) die Auffassung, dass Steuerbefreiungen ohne Vorsteuerabzug (z.B. § 4 Nr. 8 bis 29 UStG) den Steuerbefreiungen mit Vorsteuerabzug (z.B. § 4 Nr. 1 bis 7 UStG) vorgehen (vgl. Abschnitte 4.19.2 Abs. 3, 6a.1 Abs. 2a und Abschn. 15.13 Abs. 5 UStAE).
In einem Urteil vom 14.11.2024 (5 K 17/24) hatte das Finanzgericht (FG) Niedersachsen erstmalig über diese Frage für den Fall der Lieferung von nach § 4 Nr. 19 Buchst. b UStG generell steuerbefreiten Blindenwaren von Deutschland in einen anderen EU-Mitgliedstaat (= umsatzsteuerfreie innergemeinschaftliche Lieferung nach § 4 Nr. 1 Buchst. b UStG i.V.m. § 6a UStG) zu entscheiden. Seiner Auffassung nach sei die Steuerbefreiung für innergemeinschaftliche Lieferungen vorrangig anzuwenden, um eine systemwidrige Mehrfachbelastung des Werkstätten-Inhabers mit Umsatzsteuer über alle Wertschöpfungsstufen zu vermeiden. Denn in im vorliegenden Fall trete nach § 15 Abs. 3 Nr. 1 Buchst. a UStG kein Vorsteuerausschluss ein und die Besteuerung werde in den EU-Bestimmungsmitgliedstaat verlagert. Beim personenbezogenen und eingeschränkt formulierten Steuerbefreiungstatbestand nach § 4 Nr. 19 UStG handle es sich um eine innerhalb der EU nicht harmonisierte, innerstaatliche Regelung, die auf einer unionsrechtlichen Übergangsvorschrift zugunsten Deutschlands beruht. Zwar könnten Unternehmer, die unter § 4 Nr. 19 UStG fallende Leistungen im Inland erbringen, grundsätzlich nach § 9 Abs. 1 UStG auf die Steuerfreiheit verzichten, wenn der Umsatz an einen anderen Unternehmer für dessen Unternehmen ausgeführt wird. Bei gleichzeitigem Vorliegen der Voraussetzungen einer innergemeinschaftlichen Lieferung sei für den Unternehmer tatsächlich aber gar kein solcher Verzicht möglich, da er die innergemeinschaftlichen Lieferungen in seinen Rechnungen stets als umsatzsteuerfrei auszuweisen habe. Ob diese Auffassung Bestand hat, wird sich in dem von der Finanzverwaltung eingeleiteten Revisionsverfahren beim Bundesfinanzhof zeigen (BFH XI R 33/24).